Fake und Käsekrieg? Wie der Tilsiter eine neue Heimat bekommt
«Tilsiter wird von allen Leuten gemocht, hat aber zu wenig Profil und vor allem, Tilsiter hat keine Feinde.» Also wurde einer kreiert. Wie lüften heute ein gut gehütetes Geheimnis, aber lesen Sie selbst:
Die bereits durch zunehmende Vielfalt an Inlandkäse schwieriger gewordene Marktsituation verschärfte sich im Zuge der geplanten Marktöffnung für Käse 2006 noch einmal dramatisch. Die Tilsiter-Verantwortlichen befürchteten eine starke Konkurrenz von importierten Halbhartkäsen nach der Marktöffnung. So war es nicht verwunderlich, dass die Strategie und Zusammenarbeit mit der Etat haltenden Agentur infrage gestellt wurde und ein Agenturwettbewerb die Folge daraus war. E,T&H konnte den Wettbewerb erneut für sich entscheiden. Der positive Entscheid war für die bisherige und wiedergewählte Agentur insofern bedeutend, weil erstens der Entscheid der Verantwortlichen noch auf der Rückfahrt von Frauenfeld nach Rorschach telefonisch mitgeteilt wurde und weil sie sich für ein Konzept entschieden hatten, das später noch zu reden geben würde! Worum ging es nun bei diesem überzeugenden Ansatz? Dazu darf ausnahmsweise an dieser Stelle etwas ausgeholt werden.
Ein Feindbild wird kreiert
Wenn Agenturen sich auf Wettbewerbspräsentationen vorbereiten, dann betreiben sie im Normalfall einen grossen Aufwand, analysieren, vergleichen, suchen und entwickeln Botschaften, die sich zu Kampagnen hochfahren lassen. So hat auch E,T&H in der Vorbereitungszeit zu dieser Präsentation gearbeitet. Der Agenturleiter hat an einem Samstag mit einem externen Kreativen die im Laufe von drei Wochen entwickelten Ansätze beurteilt, diskutiert und verworfen. Frust und Ratlosigkeit machten sich breit, nichts deutete auf eine gute Kampagne hin, die Tilsiter den dringend nötigen Schub hätte verleihen können. Beim Verlassen der Agentur blödelten beide im Treppenhaus noch etwas herum und der Freelancer erwähnte nebenbei: «Tilsiter wird von allen Leuten gemocht, hat aber zu wenig Profil und vor allem, Tilsiter hat keine Feinde.» Das Grundkonzept entstand dann in weniger als einer halben Stunde im Treppenhaus der Agentur in Form eines verbalen Ping-Pong-Spiels zwischen Freelancer und Agenturleiter.
Dass Tilsiter keine Heimat hat, war der Agentur seit 10 Jahren bekannt. Zur Vorbereitung auf den neuen Wettbewerb hat sie sich deshalb intensiv mit der Geschichte des Tilsiters auseinandergesetzt. 1893 kehrten Schweizer aus Tilsit, dem heutigen Sowetsk, in die Schweiz zurück und haben den in Tilsit kennengelernten Käse verfeinert und nach einem neuen Rezept erstmals auf dem Holzhof in der Gemeinde Amlikon-Bissegg hergestellt. Die Nachfahren von Otto Wartmann, der einer dieser Schweizer war, käsen noch heute auf dem Holzhof. Der Tilsiter kam also ursprünglich aus Ostpreussen, aus Tilsit, dem heutigen russischen Sowetsk. Das war zwar keine neue Erkenntnis, aber zum Nutzen von Tilsiter wurde das nie konsequent ausgespielt. Man konnte davon ausgehen, dass die Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten annahmen, dass Tilsiter ein urschweizerisches Produkt sei. Und da hakt der kreative Ansatz nun ein: Schweizer reagieren (so hoffte die Agentur) empfindlich darauf, wenn schweizerische Werte angegriffen werden. Was sagte der Kreative im Treppenhaus der Agentur?
Tilsiter hat keinen Feind, also kreieren wir einen!
Der «Fall» schafft es in die Tagesschau
Wie bekannt, hat der Tilsiter seinen Ursprung in Ostpreussen, das heute zu Russland gehört. Warum sollte also im Zuge der Marktöffnung nicht jemand russischen Tilsiter in die Schweiz importieren? Die OLMA in St. Gallen, eine der grossen Publikumsmessen in der Schweiz, wäre eine ideale Plattform für den ersten Auftritt dieses russischen Tilsiters. Wäre, denn das Ausstellerreglement der OLMA verbot ausländischen Anbietern, Lebensmittel und Landwirtschaftsprodukte im Rahmen der OLMA anzubieten. Das allerdings wusste praktisch niemand. Im Vorfeld hat die Agentur auf dem Papier eine Firma mit Sitz in Prag gegründet, die Syrimpex, deren Geschäftsführer der pensionierte Marketing- und Verkaufsleiter von Tilsiter Switzerland war. Allein die Überzeugung und schliesslich Gewinnung dieser Person für diese fiktive Aufgabe ist eine eigene Geschichte. Diese tschechische Firma, mit vollständiger Adresse und auch Telefonnummer, beantragte mit dem Schweizer Geschäftsführer, eben dem ehemaligen Tilsiter-Mitarbeiter, bei der OLMA einen Ausstellungsstand. Und wie erhofft, kam von der OLMA postwendend eine Absage. Diese Absage nutzte der Geschäftsführer von Syrimpex für eine Medienorientierung, in der er sich beklagte, dass die OLMA wettbewerbsverzerrend agieren würde. Und die Rechnung ging auf: Die Medien nahmen das Thema nicht nur dankbar, sondern nahezu stürmisch auf! Die einen regten sich auf, dass die OLMA protektionistisch handelt, die anderen berichteten genüsslich von einem Russen-Angriff auf den Schweizer Tilsiter. Die Ausgangslage entwickelte sich also genau so, wie von der Agentur geplant.
Schlaflose Nächte
Um das Ganze noch zu verstärken, lud die Firma Tilsitski Syr just am OLMA-Eröffnungstag zu einer Medienorientierung und Degustation in das direkt neben der OLMA liegende Hotel Radisson Blu ein. Der vermeintliche Geschäftsführer präsentierte zusammen mit einer Russin eigens aus Sowetsk geschmuggelten Original-Tilsiter. Tilsiter in Euroblockform, geschnitzt, nicht gut riechend und vor allem säuerlich und beinahe ungeniessbar schmeckend. Die Berichte über diesen «neuen» Tilsiter aus Russland waren vernichtend und gelobt wurde die Qualität und der Geschmack des Schweizer Tilsiters! Ebenfalls gleichzeitig zur OLMA-Eröffnung liess die Agentur über den Haupteingang zum Messegelände ein Grossplakat für diesen russischen Tilsiter aushängen. Natürlich musste dieses Plakat auf Drängen der OLMA möglichst rasch entfernt werden, was wiederum von den Medien dankbar aufgenommen wurde. In vielen Interviews musste der Geschäftsführer von Tilsiter Switzerland zu diesem unfreundlichen Angriff aus Russland Stellung nehmen und wurde immer wieder gefragt, was er gedenke, dagegen zu tun. Selbst das Schweizer Fernsehen berichtete in der Tagesschau und in der Sendung 10vor10 über den «Fall». Der Geschäftsführer von Syrimpex, der ehemalige Tilsiter-Switzerland-Mann, hatte wirklich eine schwere Zeit, wurde er doch von ehemaligen Kollegen und Geschäftspartnern als Nestbeschmutzer und Verräter bezeichnet. Niemand hatte im Vorfeld mit solch heftigen Reaktionen gerechnet.
Heute gäbe es einen Shitstorm
Das Terrain war nun für die Verteidigung von Tilsiter Switzerland vorbereitet. National wurden Anzeigen geschaltet, die nicht nur den russischen Tilsiter, sondern auch jenen aus Finnland und Deutschland aufs Korn nahmen. Alle drei Länder produzieren ebenfalls Tilsiter, aber weit weg von der Schweizer Qualität. Diese Anzeigen lösten eine weitere Reaktionswelle aus. Einerseits meldeten sich Botschaften und Konsulate der drei Länder zu Wort und verteidigten ihre Tilsiter und baten Tilsiter Switzerland, die Angriffe zu unterlassen. Russen, Deutsche und Finnen in der Schweiz ärgerten sich ebenfalls über den selbstbewussten Auftritt von Tilsiter Switzerland. Das Wichtigste aber war, dass viele Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten sich ebenfalls zu Wort meldeten und meinten, diesen Auslands-Tilsiter bräuchte nun wirklich niemand. Das Konzept von Angriff, Verteidigung und Heimat ist also voll aufgegangen. Hätte es damals schon soziale Medien gegeben, wäre die Heftigkeit der Reaktionen wahrscheinlich um ein Vielfaches höher gewesen. Bemerkenswert war, dass alle in das Projekt Eingeweihte über die ganze Zeit das vereinbarte Stillschweigen eingehalten haben. Die latente Gefahr eines möglichen Eigentores war den Verantwortlichen bewusst und hatte die eine oder andere schlaflose Nacht verursacht.
Heimat: Diese mehrteilige, ganzseitige Anzeigenserie erklärt die Herkunft des Schweizer Tilsiters.
Quellen:
Tilsiter Jubiläumsbroschüre
SRF, 10vor10
Im nächsten Teil unserer Serie gibt es ein Happy End, denn der Tilsiter bekommt seine verdiente Heimat und das wird ordentlich gefeiert!